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Nachrichten & Rückblicke

Datum: 20.10.2024 15:00 - 17:00 Termin exportieren
Elisabeth Ziemer
/ Kategorien: Rückblick

Schöne Häuser für Friedenau

im Nachbarschaftshaus Friedenau gab die Vorsitzende des Vereins Dr. Elisabeth Ziemer Einsicht in Leben und Werk der vergessenen Auftraggeber.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts - vermutlich im Jahr 1886 - kommt Moses Ber Stöckel, der sich später nur noch Moritz Stöckel nennt, aus Czortkow/Oblast Tarnopol nach Berlin. Er hat die österreichische Staatsbürgerschaft, denn Tarnopol gehört damals zum österreichischen Kronland Cisleithanien mit der Hauptstadt Lemberg. Czortkow hat eine wechselvolle politische Geschichte - von 1349 bis 1772 gehörte es zu Polen, bzw. Polen/Litauen, danach bis 1918 zu Österreich/Ungarn.  Am 28. Oktober 1918 kommen vormals habsburgische Gebiete an Polen, so auch die Oblast Tarnopol. Vermutlich hat sich da auch die Staatsbürgerschaft der Stöckels geändert. 1939 wird die Oblast Tarnopol der Sowjetunion zugeschlagen, heute gehört sie zur Ukraine.


Als sich Moritz Stöckel und vermutlich auch sein jüngerer Bruder Siegmund (geb. 1868) auf den Weg Richtung Berlin machen, kommen sie aus einer Gemeinde, in der die Juden nach den Polen die größte Gruppe darstellen und es eine lebendige und aktive jüdische Gemeinde gibt mit einer Synagoge aus dem 18. Jahrhundert und einer zweiten in Planung, deren Bau 1905 begonnen wird.


Moritz Stöckel ist 1862 geboren, also ca. 24 Jahre alt, als er - mit einer Ausbildung als Buchhalter - in den Vorort Friedenau der Hauptstadt des Deutschen Reiches kommt, die gerade ihre städtebaulichen Fesseln sprengt. Sicher wird die Aussicht, hier seinen Beruf gewinnbringend ausüben zu können, ihn motiviert haben, seine Heimat zu verlassen, in der die Spannungen zwischen Polen, Ukrainern und Juden zunehmen.
Die Felder zwischen Berlin und den umliegenden Ortschaften werden allmählich bebaut, so ist die berühmte "Carstenn‘sche Figur" von 1872 beispielhaft für den Anspruch, Stadtentwicklung, Architektur und Natur in Einklang zu bringen. Johann Anton Wilhelm von Carstenn schwebt vor, Berlin und Potsdam zu verbinden, dazu kauft er das Rittergut Wilmersdorf (1870) und gründet die Villenkolonien von Friedenau und Lichterfelde. Um die Entwicklung in seinem Sinn voranzutreiben, lässt er schon mal eine großzügige, mit jeweils zwei Baumreihen bepflanzte, gepflasterte Straße von Charlottenburg nach Steglitz anlegen, die Kaiserallee, heutige Bundesallee. David Born, ein Vertrauter von Carstenn, gründet mit anderen Interessierten 1871 den "Landerwerb- und Bauverein auf Aktien", aus dessen Kreis viele gemeinnützige und öffentliche Einrichtungen angeschoben und teilweise bezahlt werden, wie die 1874 eingerichtete Haltestelle Friedenau. Zwar stoppt der Gründerkrach von 1873 zunächst die Entwicklung, aber in den 1880er Jahren erholt sich die Wirtschaft und Friedenau bekommt neuen Aufschwung durch den 1881 gegründeten "Verein für die Beschaffung billiger Wohnhäuser" für den Mittelstand. Ein vereinseigener Architekt - Max Nagel - und ein Ortsstatut sorgen für ein einheitliches Architekturbild. Auch von Schöneberg aus werden auf dem Land des Besitzers Sponholz Villen im Stil der Friedenauer Landhauskolonie gebaut, die sich den Friedenauern anschließen. Aktiv ist hier auch die Schöneberg-Friedenauer-Terraingesellschaft, die mit einem Plakat für den Kauf bereits von ihr mit Straßen, Kanalisation und Gasversorgung vorbereiter Grundstücke für deren Ankauf wirbt. Für die weitere öffentliche Infrastruktur sorgt schließlich Hans Altmann, der 1904 zum Friedenauer Gemeindebaurat ernannt wird und innerhalb kürzester Zeit zahlreiche Schulen und das Rathaus am Breslauer Platz erbaut. An einer Seitenfassade ist er mit einem Portraitkopf zu finden.
Moritz Stöckel wohnt laut Adreßbuch von 1887 zunächst in der Ringstr. 37 (heute Dickhardtstraße) und verwaltet als Buchhalter bis mindestens 1891 diese damals der Witwe Wolff gehörende Villa. Er arbeitet jedoch auch als Buchhalter für den Bauunternehmer Pählchen, der 1893 einen Bauantrag für drei Grundstücke an der Ecke Rheinstraße/Schmiljanstraße eingibt. Heute stehen die imposanten Häuser Rheinstr. 17-19 unter Denkmalschutz. Einen Nachtrag zum Bauantrag für die Rheinstr. 17 gibt Moritz Stöckel im Herbst 1893 bereits als Eigentümer des Grundstücks ab, Pählchen, der offenbar in Geldschwierigkeiten steckt und Stöckel dieses Haus verkauft, bleibt der Bauausführende.

Moritz Stöckel heiratet 1893 Gertrud Landsberg (geb. 1867), Tochter eines Schiffseigentümers. Sie ziehen zusammen mit dem Schwiegervater zuerst in die Kirchstr. 13 (heute Schmiljanstraße) in Friedenau, dann in die 1894 fertiggestellte Rheinstr. 17. 1893 ist also mit Übernahme der Rheinstr. 17 der Beginn der Bautätigkeiten von Moritz Stöckel anzusetzen, denn 1893 wird auch in seinem Firmenstempel als Gründungsjahr seiner Baufirma angegeben. Moritz und Gertrud werden Eltern von drei Töchtern.

Sein Bruder Siegmund, seit 1903 mit Elise Felicitas Hollaender verheiratet, Tante des berühmten Komponisten Friedrich Hollaender, beginnt seine eigene Baufirma soweit inzwischen erforscht, im Jahr 1901 mit dem Bauantrag für die Menzelstr. 13. Sie haben keine Kinder.

Die beiden Brüder bauen viel - bisher konnten wir an die 60 Wohnhäuser identifizieren - und schnell, denn sie nutzen geschickt nebeneinander oder hintereinanderliegende Grundstücke, auf denen sie ihr Material lagern können, die häufig gleichzeitig oder kurz nacheinander und meistens mit denselben Architekten und Handwerkern erstellt werden und auf denen sie die Baumassen sehr geschickt, gerade auch an Strassenecken, mit viel Platz für Innenhöfe und Begrünungen verteilen können.

Moritz Stöckel stirbt 1910 mit 48 Jahren an Krebs und wird auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee beigesetzt. Das Grabmal aus schwarzem Granit gibt sein Bruder Siegmund in Auftrag. Die prachtvolle Grabstelle an der Friedhofsmauer zeigt das Selbstverständnis der Familie Stöckel als Teil der Berliner gutbürgerlich-jüdischen Gesellschaft. Aus den Unterlagen der Friedhofsverwaltung geht hervor, dass es sich um eine Familiengrabstätte handelt. Die Seite für Gertrud bleibt jedoch frei. Heute ist das Grab verfallen und wird seit Sommer 2024 vom Verein Denk mal an Berlin e.V. saniert.

Siegmund führt zunächst sein Baugeschäft weiter. Offenbar erfüllt er sich 1909 einen Traum mit dem Kauf der in der Fregestr. 71 noch bestehenden Villa, die er bis zu seinem Tod bewohnen wird. Er wird wie auch der Schwiegersohn von Moritz, Max Blank, 1938 während der "Polenaktion" von den Nazis verhaftet, nach Polen abgeschoben und stirbt im Januar 1939 in Warschau an einer Lungenentzündung. Max Blank kann sich zurück nach Berlin durchschlagen. Er emigriert sofort in die USA, vermutlich hatte er dies bereits vorbereitet. Seine Frau Margarete schickt 1939 erst die Tocher Stefanie, dann ihren Sohn Ernst mit einem Kindertransport nach London. Ihr gelingt es auch, nachzukommen. Die Familie Blank findet erst 1945 in New York wieder zusammen. Die Nachfahren der dritten Tochter Cäcilie von Gertrud und Moritz Stöckel leben heute in England.

Die beiden Witwen Gertrud und Elise Stöckel werden wie auch die unverheiratete Tochter von Moritz, Susanne, 1942 ins KZ Theresienstadt deportiert. Gertrud stirbt dort am 16. August, Susanne am 29. März 1943. Elise Stöckel stirbt am 18. Dezember 1942 im KZ Auschwitz.

Fotos: Hauptbild Medaillon Rheinstr. 17 Thomas Knoll, verfallene Grabanlage von Moritz Stöckel 2019 Elisabeth Ziemer, Beginn der Sanierung 2024 Elisabeth Ziemer, Fassadenentwurf für Beckerstr. 3 Elisabeth Ziemer, Ansicht Beckerstr. 3 Thomas Knoll, Tür Beckerstr. 3 Thomas Knoll, Ansicht Cranachstr. 38 Thomas Knoll, Seitenfassadenstuck Cranachstr. 38 Thomas Knoll, Ansicht Fregestr. 23 Thomas Knoll, Ansicht Rheinstr. 17 Thomas Knoll.

 

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